Einleitung

«Dort hinten, vor dieser Fluh, dort ist das Änziloch?», 

fragte Margritli Miggu.

 

«Ja, richtig», sagte er, «von dort komme ich und dort lebe ich.»

«Hast du es gut?»

«Ja, Margritli, es ist gut im Änziloch – es gibt sicher bessere Orte – das mag sein. Das Leben mit meiner Familie im Änziloch ist für mich aber wunderbar.»

Es war hart für Margritli, dies so anhören zu müssen. Bei ihr im Rüeblispitz war es nicht so.

Es war ein sonniger Sonntagmorgen. Die Felder lagen in saftigem Grün vor ihnen.

«Wenn das Wetter so bleibt, dann stehen strenge Erntetage vor uns», dachten beide. Das beschäftigte sie jetzt aber nicht, schliess

Heute war wieder ein prächtiger Aussichtstag. Den beiden Jungen bot sich eine zauberhafte Sicht zu den hohen Bergen. Sie sind immer mit Schnee bedeckt. An diesem Plätzli blieben sie stehen.lich war Sonntag, der Ruhetag.

Es war in der Nähe einer mächtigen Wettertanne, die ihnen Schatten oder bei einem überraschend eintretenden Gewitter auch Wetterschutz bieten konnte. Diese alleinstehende Tanne stand mitten in einer Hecke. Aus ihr strotzten Haselnusssträucher, blühten ein Holunderbaum, Stechpalmen und andere Heckengewächse. Miggu und Margritli nahmen gute Düfte aus diesen Pflanzen wohltuend auf.

«Schon oft habe ich mich gefragt, wie das Leben früher war», fuhr dann Miggu fort. «Worüber haben sich wohl unsere Vorfahren gefreut? Welche Entbehrungen mussten sie erdulden, welches war ihr Tagesablauf und wie war wohl ihr Denken?»

«Ich verstehe deinen Gwunder für die Vergangenheit», entgegnete Margritli. «Ich habe genug damit zu tun, das Leben jetzt begreifen zu können.»

«Schau die Berge, die Hügel, die alten mächtigen Tannen und Bäume! Sie waren alle schon lange vor uns da. Die Menschen, die vor uns lebten, bestaunten sie auch und blieben in Gedanken versunken über Leben und Sterben. Welches waren wohl ihre Gedanken, ihre Erlebnisse, ihre Freuden und Ängste? Gebt mir doch Antwort, ihr Steine, Bäume, Hügel und Berge! Erzählt mir – uns – doch vom Leben unserer Vorfahren!»

«Das geht nicht», sagte Margritli, als müsste sie Miggu davon überzeugen. «Es ist auch gut so. Wir müssen uns den jetzigen Herausforderungen stellen. Das ist doch genug!»

Miggu schaute zum Napf und sah sein Zuhause im Änziloch. Dann wandte er sich wieder Margritli zu: «Ich will es aber einfach wissen, wie das geworden ist, was heute ist. Ich hoffe, Menschen anzutreffen, die von ‹früher› erzählen können.»

«Meinst du wirklich, das Wissen um die Vergangenheit würde den Menschen helfen?»

Miggu genoss diesen Moment hier. Er spürte die Zuneigung für dieses Mädchen. Er wusste nicht, was mit ihm nun geschah. So etwas hatte er noch nie erlebt. Am liebsten hätte er sie umarmt, sie umschlungen. Er getraute sich nicht. Margritli schaute wieder zum Änziloch und sagte halblaut vor sich hin: «Dort hinten, vor dieser Fluh, dort ist das Änziloch und dort lebst du, Miggu?»

«Ja, das ist so, dort lebe ich. Margritli, weisst du …» Seine Stimme stockte. Er fand die Worte nicht.

«Was ist Miggu? Hast du was?»

«Nein, schon gut, Margritli. Ich meinte nur …»

Dieser Ort, dieser Moment, diese Frau. Miggu war glücklich. Was sollte er nun mit diesem Glück anfangen?

«Wie ist es, wenn …» Miggu spürte eine wachsende Sehnsucht nach dieser wunderschönen Frau. Sollte er sie in die Arme nehmen und sie schweigend spüren lassen, wie sehr er sich an diesem Ort in ihrer Gegenwart wohl fühlte? Würde er sie damit aber nicht überfordern und gleich wieder verlieren? Und was, wenn in den Familien vernommen würde, dass er auf dem Heimweg von der Kirche dieses Mädchen begehrte? Das hätte Folgen haben können.

Miggu konnte einfach nicht in Worte fassen, was ihn bewegte und so fuhr er fort: «Schau diese schöne Natur. Die Welt wäre doch so wunderbar, wenn wir Menschen diesen Frieden nicht immer stören würden.» Er schaute nicht mehr zu Margritli. Die umliegenden Wieden und Büsche sollten ihn ablenken und seine Gefühlswelt wieder in Ordnung bringen.

Bienen, welche emsig von Blume zu Blume flogen, summten beiden um die Ohren. In der Wettertanne führten Vögel mit ihrem Gezwitscher ein harmonisches Sonntagskonzert auf. Zwischen Margritli und Miggu entwickelte sich Spannung.

Am liebsten wäre er jetzt einfach davongerannt, den Hoger hinunter durch den Wald bis zum Fuchslochgraben.

Miggu hatte noch nie erfahren, dass jemand über Gefühle, über das Wohlbefinden im Herzen sprach. Er fand es daher auch jetzt richtig, nichts zu sagen. Seine Gedanken blieben aber bei Margritli, weit über diesen Moment hinaus.

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